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Er war einer der letzten Überlebenden der Hölle von Auschwitz

Gustav Schliefke in Ilmenau war einer der wenigen, die Auschwitz überlebten und einer der ganz wenigen, die auch 70 Jahre später noch am Leben waren. Wenn er sprach und sich erinnerte, dann tat er das so lebhaft und anschaulich, als wäre es gestern erst gewesen. Die dicke Hornbrille verdeckte die Falten, die ihm sein Schicksal ins Gesicht gezeichnet hatte. Er war freundlich und humorvoll, er sprach ohne eine Spur von Verbitterung. Alle Fragen beantwortete er geduldig. Wenn aber die Rede auf den von den Nazis verbreiteten Völkerhass, auf die Unmenschlichkeit von Gestapo und SS beispielsweise kam, dann fiel es ihm schwer, den vorher so ruhigen Ton beizubehalten. Dann spürte man, was er damals durchlebt und durchlitten hatte, gleichsam am eigenen Leib. Dann sah man auch die Spuren, die jene Hölle bei ihm hinterlassen hatte, sah die Wunden, die ihm Gestapo und SS zugefügt hatten. Auch wenn diese Wunden längst verheilt waren - die Narben, die davon blieben, konnten nicht ausgelöscht werden. Und die der Seele zugefügten Verletzungen heilten ohnehin nie. Die blieben bis an das Ende seines Lebens.

Wenn der immerhin das fünfundneunzigste Lebensjahr erreicht Habende in der Küche seines Hauses mit dem Blick zum kleinen und sehr gepflegten Hausgarten auf der gemütlichen Eckbank saß, dann hatte er es am liebsten, wenn der Besucher rechts von ihm Platz nahm. Das rechte Ohr hatte noch eine Hörfähigkeit von 55 % und bei der kurzen Entfernung konnte er auf das Hörgerät verzichten. Dabei konnte der Gast sogar in normaler Lautstärke sprechen. Auf dem linken Ohr allerdings war Gustav Schliefke fast taub - ein „Andenken“ an die grauenhaften Stunden, in denen Gestapoleute das, was sie in Erfahrung bringen wollten, aus ihm herauszuprügeln suchten. Er zeigte auch seine Hände, seine Handgelenke, seine Unterschenkel: Breite Narben waren die unauslöschliche Erinnerung an die Elektroden und die qualvollen Elektroschocks, mit denen er zum Reden gebracht werden sollte. Der Anblick hinterließ nicht nur ein Gefühl der Übelkeit, er ließ den Zuhörer zudem unweigerlich daran denken, dass es in der Bundesrepublik Deutschland Zeiten gegeben hat, in denen auch eine solche Gestapo-Karriere das Sprungbrett für eine neue Karriere gewesen ist.

Wie nun kam der junge Gustav Schliefke in die Fänge der Gestapo und anschließend in die Hölle des KZ Auschwitz? Dazu muss man seine Lebensgeschichte kennen: Zur Welt kam er am 3. Februar 1922 in dem zur Gemeinde Kamiensk gehörenden Dorf Aleksandrów im Kreis Piotrków Trybunalski. Die Namen sagen es deutlich genug - sein Geburtsland war die nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandene Republik Polen. Um Irrtümern vorzubeugen, seine Heimat hatte bereits vor der Wiedergründung des Staates zu Polen gehört und nicht zu den Gebieten, die das damalige Deutsche Reich nach dem verlorenen Krieg auf Grund des Versailler Vertrages abtreten musste. Der Vater, ein Müller aus Magdeburg, hatte seine Heimat in jungen Jahren verlassen und sich im zu jener Zeit unter zaristischer Herrschaft stehenden Polen eine Existenz und eine Familie aufgebaut. Im südlich von Warschau gelegenen Gebiet zwischen Częstochowa und Radom lebten damals viele Deutsche als Angehörige einer Minderheit, deren Vorfahren sich vor Jahrhunderten hier niedergelassen hatten.

Gelegentlich erhielt diese Minderheit durch Auswanderer aus dem Deutschen Reich auch später noch Verstärkung. So bildete die deutsche Bevölkerung im Kreis Piotrków Trybunalski sogar die Mehrheit, weshalb Stadt und Kreis zusätzlich den Namen Petrikau trugen. Die Deutschen lebten meist unter sich in festen Siedlungsgemeinschaften, so dass viele von ihnen die polnische Sprache entweder gar nicht oder aber nur in dem Maße beherrschten, wie das unbedingt erforderlich war. Gustav Schliefkes spätere Frau Olga beispielsweise lernte Polnisch erst nach dem Kriege, als sie bei einem polnischen Bauern arbeitete, dessen Tochter sehr gut deutsch sprach. In Aleksandrów hatten die Schliefkes einen einzigen polnischen Nachbarn, in der ganzen Gemeinde waren es sieben. Denen machte es nichts aus, sich mit den Deutschen in deren Muttersprache zu verständigen. Der junge Gustav besuchte die sechs Klassen umfassende Normalschule und anschließend eine zum Abschluss der achten Klasse führende Einrichtung. Auch dort war die Unterrichtssprache deutsch. Insgesamt lebten Deutsche und Polen friedlich und einträchtig zusammen, ohne Neid und Hass aufeinander. Deutschland spielte allenfalls in der Erinnerung an die Heimat der Vorfahren eine Rolle. Ansonsten war es weit weg - bis zur Grenze waren es gut 100 Kilometer, bis Berlin gar 450. Mit Parolen und Gesinnungen wie „Deutschland, Deutschland über alles“, „Heim ins Reich!“ oder „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ hatte keiner etwas im Sinn. Sie waren Deutsche, aber eben polnische Staatsbürger, und solange sie dieser Staat in Ruhe ihrem täglichen Broterwerb nachgehen ließ, hatten sie nichts gegen ihn.

Das freilich änderte sich nach dem Machtantritt des deutschen Faschismus, nicht sogleich am 30. Januar 1933, nicht schlagartig. Es war zunächst ein allmählicher, ein schleichender Prozess. Dann aber tönte die Goebbels-Propaganda immer öfter und immer stärker nach Polen hinein, beklagte lautstark die vorgebliche Unterdrückung der deutschen Minderheit, ernannte sich zu deren Sprecherin und sprach von Rechten, die ihr vorenthalten würden. Eine Welle von Nationalismus und Deutschtümelei flutete über die Grenze. Wenn sich auch viele fragten, worin denn die genannte Unterdrückung bestehen sollte und weshalb sie auf einmal Angehörige einer „Herrenrasse“ und ihre polnischen Nachbarn dagegen eine Art „slawische Untermenschen“ sein sollten, wenn auch viele derartige Propaganda ablehnten und mit ihren Nachbarn, gleich welcher Nationalität, weiterhin friedlich zusammenleben wollten, so nistete sich dieses Gift doch allmählich in die Hirne so mancher Menschen ein. Als „Volksdeutsche“ wurden sie nun bezeichnet und es fanden sich unter ihnen auch Leute, die sich von dieser Propaganda betören ließen, sich an deutsch-nationalistischen, profaschistischen Verbänden beteiligten, sich für Spionage- und Sabotagedienste anwerben ließen und als Mitglieder von Diversantengruppen den schnellen Vormarsch der Hitler-Wehrmacht begünstigten.

Gustav Schliefke nun befand sich mitten in seiner Tischlerlehre, als diese Wehrmacht am 1. September 1939 in sein Heimatland einfiel. Die schlecht ausgerüstete polnische Armee leistete zwar teilweise erbitterten Widerstand, war aber dem weit überlegenen Gegner letztlich überhaupt nicht gewachsen. Bereits am 4. und 5. September erzwang im Bereich der Heeresgruppe Süd die 8. Armee den Übergang über die Warthe und griff in Richtung Łódz an. Der 10. Armee gelang ein schneller Vorstoß in den Richtungen Radomsko - Piotrków Trybunalski (Petrikau) und Częstochowa (Tschenstochau) - Radom. Als die polnische Regierung in der Nacht vom 17. zum 18. September nach Rumänien floh, war der Staat praktisch zusammengebrochen. Was von Polen übriggelassen worden war, hieß ab 12. Oktober 1939 Generalgouvernement, in dem der von Hitler ernannte Generalgouverneur Hans Frank ein blutiges Terrorregime errichtete. Die Heimat des nunmehrigen „Volksdeutschen“ Gustav Schliefke wurde dem Distrikt Radom dieses Generalgouvernements zugeordnet. Wie sollte es jetzt mit ihm weitergehen? Als „Volksdeutscher“ galt er nunmehr als deutscher Staatsbürger und auf Grund seiner Jugend drohte ihm die baldige Zwangsrekrutierung zur Wehrmacht. An deren Eroberungsfeldzügen wie auch an deren Besatzungsregime wollte er sich aber nicht beteiligen. Da fand der Vater einen scheinbaren Ausweg: „Junge“, riet er, „melde Dich freiwillig zur Bahnpolizei, dann bist Du nach außen hin dabei, entgehst aber der Wehrmacht.“ So geschah es auch und Gustav Schliefke wurde Bahnpolizist in deutschen Diensten. Das änderte freilich nichts an seiner Ablehnung des Faschismus und des Besatzungsregimes. Zwischenzeitlich begann sich der polnische Widerstand zu organisieren - in den Wäldern zwischen Radom und Lublin entstanden Partisanengruppen. Mit ihren Aktionen banden sie zahlreiche Einheiten von Wehrmacht, Polizei und SS. Mitglieder einer Partisanengruppe, die den jungen Bahnpolizisten aus den Jahren vor dem Überfall auf Polen gut kannten, knüpften sehr vorsichtig erste Kontakte zu ihm. Aus seiner dienstlichen Tätigkeit wusste er ja, wann welche Militärtransporte über welche Strecken zu welchem Bestimmungsort gehen sollten. Die „Schienenkrieg“ genannten Aktionen der Partisanen zur Verhinderung solcher Transporte, zur Störung der Nachschubwege, waren wichtiger Bestandteil des Kampfes gegen das Besatzungsregime wie auch gegen den Missbrauch polnischen Gebietes als Aufmarschraum zum Überfall auf die UdSSR. So begann seine Zusammenarbeit mit den Partisanen - ein für alle Beteiligten lebensgefährliches Unterfangen, das deshalb strengster Geheimhaltung unterlag. Auch ein Kamerad Gustav Schliefkes, dessen Name ihm mit Paul Weiß erinnerlich ist, machte mit.

Wie er bei der Gestapo in den Kreis der Verdächtigen geriet, konnte er nie in Erfahrung bringen. Nach seiner Vermutung begannen im Februar 1942 erste Ermittlungen. Damals war in Kraków (Krakau) ein Zug mit Panzern zusammengestellt worden, der nach dem Verlassen des Stadtgebietes von Partisanen gesprengt wurde. Die Information über diesen Transport stammte von Gustav Schliefke. Doch beweisen konnte man ihm offenbar nichts, denn verhaftet wurde er erst am 28. Mai 1942. Auch da tappte die Gestapo immer noch im Dunkeln. Dennoch war er verdächtig: Waren die „Volksdeutschen“ vordem für die Goebbels-Propaganda die „Eckpfeiler des Deutschtums“ gewesen, so galten nun viele von ihnen in den Augen der Besatzungsmacht als „unsichere Kantonisten“, als „verkappte Polen“. Hatte sich dieser Schliefke nicht freiwillig zur Bahnpolizei gemeldet? War das am Ende nicht ein Vorwand, um als Informant der polnischen Untergrundbewegung in den Besatzungsapparat einzudringen? Hatte der nicht zeit seines Lebens in guter Nachbarschaft mit Polen gelebt, hatte er sich von den deutsch-nationalistischen Verbänden nicht ferngehalten? War er folglich ein Polenfreund, der mit Sabotageaufträgen in die Bahnpolizei geschleust worden war? So oder wenigstens so ähnlich mag es den Gestapoleuten durch den Kopf gegangen sein. Im Gefängnis von Krakau wurde versucht, ihn mit Schlägen und Elektroschocks zum Reden zu bringen. Man zeigte ihm seinen ebenfalls verhafteten Kameraden - auf einer Bank liegend, der Rücken von unzähligen blutigen Striemen überzogen. Er rührte sich nicht mehr, weshalb Gustav Schliefke annahm, dass er bereits tot war. Doch auch dieser grässliche Anblick konnte ihn nicht zum Reden bringen. Solange er sprechen konnte, sagte immer wieder: „Ich weiß nichts.“ Drei Wochen dauerten diese Torturen. Dann wurde er zusammen mit anderen Verhafteten in einem Bus in das Hauptlager des KZ Auschwitz gebracht. Nach der Ankunft mussten sich alle nackt ausziehen und die Sachen auf einen Haufen legen. Noch lange dachte er bei der Erinnerung daran an die zynische und menschenverachtende Losung am Lagertor „Arbeit macht frei“, die er dabei ständig vor Augen hatte.

Danach kam der Befehl, sich rechts und links der Lagerstraße aufzustellen. Sechs oder sieben qualvolle Stunden mussten die Verhafteten so verbringen, bis sie schließlich in einen Waschraum geführt wurden. Dort gab es nur einen kalten und feuchten Betonfußboden, auf dem sie nächtigen konnten. Am Morgen kamen Häftlinge, die den Neuankömmlingen unter strengster SS-Bewachung die Köpfe kahlscheren mussten. Dann wurde Gustav Schliefke die dünne Häftlingskleidung verpasst. Fortan war er Auschwitz-Häftling Nummer 67164 und trug den roten Winkel. Anschließend wurden von ihm Erkennungsdienstfotos angefertigt - einmal Profil mit kahlgeschorenem Kopf, einmal von vorn mit kahlgeschorenem Kopf, einmal Halbprofil mit Häftlingsmütze. Und noch etwas bemerkenswertes: In eines der Fotos wurde als Herkunft „Pole“ einkopiert, obwohl er doch offiziell als „Volksdeutscher“ galt!

Wieder begannen Verhöre und Folterungen. Er wurde an Stricken aufgehängt, die sich schmerzhaft in die Haut einschnitten. Wurde er vor Schmerzen bewusstlos, bekam er einen Guss kaltes Wasser ins Gesicht. Da er auch hier nichts zugab und offensichtlich hieb- und stichfeste Beweise nicht beschaffbar waren, begann für ihn ein anderer Leidensweg: Er wurde nach Block 18 A verlegt. Dort gab es kein Bett, keinen Strohsack, nur eine Decke für jeden der Insassen. Im Winter krochen meist zwei Häftlinge zusammen unter die Decken, um sich gegenseitig zu wärmen. Wer dabei erwischt wurde, kam auf den Bock und erhielt 25 Schläge. Wecken war morgens um 5.00 Uhr. Gustav Schliefke wurde einem mit Brückenbauarbeiten beschäftigten Arbeitskommando zugeteilt, das nach seiner Erinnerung „Zollerbrücke“ hieß. Zum Setzen der Brückenpfeiler mussten die Häftlinge zum Teil bis in Brusthöhe im kalten Wasser stehen. Sechs Monate stand er diese Tortur durch, dann nahm er allen Mut zusammen und bat den verantwortlichen Kapo namens Franz um Versetzung in ein anderes Kommando. So kam er für zwei Jahre in die Zementfabrik. Zwar musste er nun nicht mehr im Wasser stehen, doch letztlich war er vom Regen in die Traufe gekommen: Sein Körper war von jetzt ab mit ätzendem grauem Zementstaub bedeckt und Möglichkeiten zum Waschen waren kaum vorhanden.

In Auschwitz hatten sich die SS-Bewacher ein besonders perfides System zur Demütigung der Häftlinge ausgedacht, das gleichzeitig der eigenen Bereicherung diente: Jüdische Lagerinsassen wurden gezwungen, Briefe an die Angehörigen von Häftlingen zu schreiben und darin um die Zusendung von Lebensmittelpaketen zu bitten. Auch Gustav Schliefke erhielt daraufhin ein solches Paket, das er sich auf der Poststelle abholen sollte. Der dort beschäftigte Häftling war übrigens ein alter Bekannter von ihm: Auch der ehemalige stellvertretende Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Kamiensk war nach Auschwitz verschleppt worden. Das ihm unter SS-Bewachung ausgehändigte Paket enthielt nur noch ein Brot. Alle anderen Lebensmittel waren zuvor entnommen worden. So wurde auch mit den Paketen für andere Häftlinge verfahren: Alle Lebensmittel, an denen die Wachmannschaften Interesse hatten, wurden zu deren Gunsten an die Küche abgeliefert. Die eigentlichen Paketempfänger erhielten dann „bei guter Arbeit“ als „Belohnung“ zusätzlich einen halben Liter Suppe. Als sich Gustav Schliefke einmal aus Hunger eigenmächtig etwas von dieser Suppe genommen hatte und dabei ertappt worden war, wurde er dafür mit 21 Nächten Stehbunker bestraft. Doch trotz aller Drangsale und Quälereien in der Hölle des KZ Auschwitz ging der Kampf gegen den Faschismus weiter: Im Block 18 befanden sich die Arbeitsräume für Elektriker und Schornsteinfeger. Dort gab es, gut versteckt natürlich, ein Radio mit Kopfhöreranschluss. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wurden heimlich Sendungen, unter anderem von Radio Moskau und dem Londoner Rundfunk, abgehört, in die Muttersprachen verschiedener Häftlingsgruppen übersetzt und im Lager verbreitet.

Im Jahre 1944 wurde Gustav Schliefke zur Schreibstube befohlen. Dort wurde er gezwungen, ein Schriftstück zu unterzeichnen, mit dem seine Inhaftierung für die Dauer des Krieges festgelegt wurde. An einem kalten Dezembertag des gleichen Jahres hieß es plötzlich, an der Lagerstraße anzutreten. Die frierenden Häftlinge mussten ihre mit einem Loch versehene persönliche Suppenschüssel mit einem Bindfaden an der Häftlingskleidung befestigen. Für jeweils 7 Mann gab es ein Kommissbrot, das einen Tag reichen musste, und bitteren Tee. Anschließend wurden die Häftlinge zum Bahnhof Auschwitz gebracht. Dort hieß es, in Viehwaggons einzusteigen, wo sie dicht an dicht gedrängt stehen mussten. Zum Hinsetzen reichte der Platz nicht aus. Nach tagelanger Bahnfahrt kamen die ausgemergelten und erschöpften Insassen schließlich in der böhmischen Stadt Leitmeritz (Litomeřice) an. Zwei Tage verbrachten sie in einem Gefangenenlager - ohne Essen! Am dritten Tag hieß es antreten und zur Zwangsarbeit in einem unterirdischen Rüstungsbetrieb abzumarschieren. Dort wurden Bomben hergestellt, die von den Häftlingen mit Sprengstoff gefüllt werden mussten. Auch hier ging der Widerstand weiter - in den Sprengstoff wurde heimlich Sand gemischt. Nach acht oder zehn Tagen wurde das entdeckt. Daraufhin wurden wahllos 16 Häftlinge herausgegriffen und zur „Abschreckung“ erschossen.

Anfang 1945 erkrankte Gustav Schliefke auf Grund der unmenschlichen Lebensbedingungen an Fleck- und zusätzlich an Bauchtyphus, so dass er in die Revierbaracke eingeliefert wurde. Wer solche Krankheiten angesichts der katastrophalen medizinischen Versorgung überstand und diese Baracke lebend verlassen konnte, musste schon eine sprichwörtliche Pferdenatur haben und vor allem auf die Solidarität anderer Häftlinge bauen können. Er hatte Glück - der Blockführer war ein Häftling, der noch wusste, wohin er gehörte, und der deshalb unter Lebensgefahr etwas Essbares organisierte.

In der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1945 änderte sich das Leben Gustav Schliefkes nahezu schlagartig. Dabei hätte alles ganz anders kommen können, denn, obwohl das faschistische Deutschland nicht einmal 24 Stunden später bedingungslos kapitulieren musste, hatte es das sogenannte „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“, zu dem Leitmeritz gehörte, noch im Griff. Erst im Laufe des 8. Mai sollte in Prag der Aufstand gegen das verhasste Besatzungsregime beginnen. Jedenfalls mussten 50 Häftlinge antreten und unter SS-Bewachung das Stadtgebiet verlassen. Die Angst war groß, dass sie im letzten Augenblick noch umgebracht werden könnten. Doch ihre Bewacher hatten offenbar nur noch ein Ziel - so schnell wie möglich mit heiler Haut davonzukommen. So hieß es plötzlich „Halt!“ und dann „Links um!“. Als letzter Befehl folgte zu aller Überraschung „Geht, wohin Ihr wollt!“. Das hätte natürlich auch eine Finte sein können, weshalb sich alle so schnell wie möglich in einem nahegelegenen Roggenfeld versteckten. Die Nacht wurde in einer Scheune verbracht, immer noch mit einem Gefühl der Angst, da sich in der Gegend nach wie vor Einheiten von SS und Wehrmacht herumtrieben. Erst als die sich selbst überlassenen Häftlinge auf tschechische Partisanen stießen, war die Angst vorbei. Die meisten waren so geschwächt, dass sie nicht mehr weiterlaufen konnten. So wurden sie einige Tage lang von den Partisanen verpflegt, bis sie allmählich wieder auf die Beine kamen. In Gruppen zu 10 Häftlingen wurde nun versucht, nach Prag zu marschieren. Das freilich wurde durch tschechische Sicherheitskräfte unterbunden, da die Stadt zu jener Zeit vollkommen überfüllt war. Mit einem Güterzug wurden die Häftlinge in das schon von polnischen Truppen besetzte Breslau gebracht. Gustav Schliefke wurde von polnischen Militärangehörigen versorgt und erhielt als ehemaliger KZ-Häftling die Möglichkeit, den Weg in Richtung Heimat anzutreten.

Doch nun musste er erneut die Feststellung machen, dass das Leben unter den damaligen komplizierten wie auch verworrenen Verhältnissen zahlreiche Fährnisse für ihn bereithielt: Er war ja von der Nationalität her Deutscher und das war für viele in Polen nach den grauenhaften Erlebnissen der Besatzungszeit nur ein anderes Wort für Faschist. Ein Deutscher mit Wohnsitz und Staatsbürgerschaft in Polen war gleich doppelt verdächtig - als Nazi und als Verräter. So musste sich der Heimkehrer erst einmal beim zuständigen posterunek, dem Polizeirevier, einem eingehenden Verhör unterziehen. Er konnte jedoch einen Entlassungsschein als ehemaliger KZ-Häftling vorweisen, weshalb ihm die Fahrt nach Lódz genehmigt wurde. Dort kam er bei dem einstigen Kommandeur der Partisaneneinheit unter, die er als junger deutscher Bahnpolizist mit Nachrichten versorgt hatte. Drei Wochen verbrachte er bei ihm, doch seine Odyssee sollte immer noch kein Ende nehmen: Die Ansichten, Meinungen und Verfügungen über die Behandlung Deutscher, die vor dem Kriege polnische Staatsbürger gewesen waren, gingen offenbar weit auseinander, wechselten verschiedentlich und waren oftmals auch von der Willkür wie auch vom Ver- oder Misstrauen örtlicher Organe abhängig. Gustav Schliefke kam in ein Internierungslager und wurde auf Grund seiner einstigen Tischlerlehre in einem Sägewerk eingesetzt. Dessen Leiter verfügte nach Kenntnis des Entlassungsscheins aus dem KZ die sofortige Aufhebung der Internierung. Angesichts der unsicheren Verhältnisse blieb der einstige Auschwitz-Häftling und arbeitete weiter im Sägewerk. Zudem musste er nach dem Verbleib seiner Angehörigen forschen, denn auf Grund der Wirren des Krieges und der ersten Nachkriegsjahre konnte er nicht damit rechnen, sie in Aleksandrów anzutreffen. Und so war es auch - Frau und Schwiegereltern waren 1947 ausgesiedelt worden und hatten schließlich im thüringischen Großbreitenbach eine neue Heimat gefunden. Im Jahre 1950 zog Gustav Schliefke nach Wrocław, das ehemalige Breslau, wo er dann die Genehmigung zur Übersiedlung in die DDR erhielt.

Der Ankunft dort folgten 14 Tage Quarantänelager bei Wolfen, ehe er seine Angehörigen nach fast acht Jahren endlich wiedersehen konnte. In Großbreitenbach wohnte die Familie in der Grundsmühle, Arbeit erhielt er bei der Firma Bärwinkel, wo er auch den Vorsitz der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) übernahm. Ab 1956 arbeitete Gustav Schliefke als Tischler bei der Ilmenauer Firma Glaser, später ein Betriebsteil des Holzkombinates bzw. des VEB Qualitätsmöbel Großbreitenbach. Auch hier war er aktiv gesellschaftlich tätig, wurde Vorsitzender der Grundeinheit der DSF und mit Reisen nach Leningrad und Moskau ausgezeichnet. Bis 1990, also noch über das Rentenalter hinaus, war er Vorsitzender der Gewerkschaftsleitung. Dann war für ihn, der sein Leben lang das Arbeiten gewohnt war, plötzlich Schluss. Der neue West-„Investor“ warf zuerst die hinaus, die in der DDR, obwohl schon im Rentenalter, noch gebraucht worden waren. Dann kam die übrige Belegschaft an die Reihe, bevor der Betrieb im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlachtet wurde, bis nur noch eine Ruine übrigblieb. Noch lange danach dachte Gustav Schliefke mit Zorn an diese Zeit, in der so viele erst volltönenden Phrasen von „Gutes Geld für gute Arbeit!“ und „Die beste Sozialpolitik ist eine soziale Marktwirtschaft!“ folgten, anstatt ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, und die dann ohnmächtig und entsetzt zusehen mussten, wie das von ihnen einst Aufgebaute zerstört wurde.

Nun, wenigstens konnte Gustv Schliefke nach einem schweren und arbeitsreichen Leben gemeinsam mit seiner Frau das Rentnerdasein genießen. Beide hatten ein Häuschen in der Gabelsberger Straße mit einem schönen ruhigen Garten - ein Leben im Grünen eben. Die schlimmste Zeit seines Lebens indes vergaß er nie, nicht nur deshalb, weil ihn die Narben und der Gehörschaden tagtäglich daran erinnerten. Sorgfältig bewahrte er auch seine Dokumente auf: Da ist der Streifen Fotopapier mit den drei Erkennungsdienstfotos, auf der Rückseite gestempelt mit den Worten „wykonano na zamówienie DZIAŁDOKUMENTACJI PAŃSTWOWEGO MUZEUM W OŚWIĘCIMU 22.3.1960“ („Angefertigt auf Anforderung Dokumentationsabteilung des Staatlichen Museums in Oświęcim“ [Auschwitz]). Und da ist ein Büchlein in graublauem Einband mit roter Schrift, der Ausweis Nummer 0810 als anerkannter Verfolgter des Naziregimes, ausgestellt vom Rat des Bezirkes Suhl am 25. Juli 1960. Er machte nicht viel Worte, dieser Gustav Schliefke. Er war der ruhige und bescheidene Mensch geblieben, der er immer war. Man musste ihn eben fragen. Dann aber sprach er über die schlimmsten und schwersten Jahre seines Lebens - eingedenk der Mahnung „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ und auch der „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“. Für ihn hieß das, nicht nachzulassen, solange es ihm möglich war, und vor allem Jugendliche über die Verbrechen des Faschismus aufzuklären. Die auf Vorschlag der Stadtratsfraktion der Linkspartei.PDS im Januar 2006 erfolgte Verleihung der Ehrenmedaille der Stadt Ilmenau hatte ihm dazu wieder neue Kraft und Geduld gegeben. Er hatte die Achtzig schon überschritten, doch so lange es sein Gesundheitszustand erlaubte, sprach er sowohl vor Schülerinnen und Schülern Ilmenauer Schulen als auch auf Veranstaltungen der Thüringer Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Erst dann, als er die Neunzig schon überschritten hatte, verließ der mittlerweile verwitwete Gustav Schliefke sein Haus, in dem er gemeinsam mit Tochter und Schwiegersohn gewohnt hatte, und lebte im Feierabend- und Pflegeheim Hüttenholz. Dass eine Begegnung während eines mit seiner Tochter unternommenen Spaziergangs Anfang September die letzte gewesen sein sollte, war da noch nicht zu ahnen gewesen. Doch gerade deshalb war es um so erschütternder, zu erfahren, dass er wenige Monate vor seinem 95. Geburtstag am 24. September 2016 die Welt für immer verlassen musste. Sein Vermächtnis zu erfüllen, heißt, weiterhin dagegen anzukämpfen, dass sich Nazis in diesem Staat ungehindert breitmachen können.

H.-J. Weise

Bild 748 226:Gustav Schliefke spricht vor Schülerinnen und Schülern der Heinrich-Hertz-Schule.

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